Alle lügen. Lügen alle? Nein!
(Update 07.03.22) Russisches Militär ist einmarschiert, um die ukrainische Bevölkerung vor den „Nazis“ in Kiew zu schützen. Auf Europas größtem Kernkraftwerk nahe Saporischschja schlagen Granaten ein. Waren es russische? Video-Aufnahmen zeigen erschossene Zivilisten in der Kleinstadt Irpin, russische Fallschirmtruppen beim Absprung, ein brennendes Krankenhaus, zerbombte Schulen, zerstörte Wohnhäuser. Sind die Bilder echt? Afrikanische Studierende, die in der Ukraine studieren, werden an der polnischen Grenze abgefangen und ins Kriegsgebiet zurückgeschickt. Stimmt das? Und was geschah am ersten Kriegstag mit den Grenzsoldaten auf der ukrainischen Schlangeninsel: sind sie desertiert, festgenommen oder umgebracht worden? Oder stimmt nichts von alledem?
Seit Beginn des russischen Ukraine-Einmarsches fluten zahllose Meldungen, Berichte, Bilder und Videos wie auch Dementis und Gegenbehauptungen die Internet-Kanäle. Auf Facebook, YouTube, Instagram, Twitter, TikTok und Telegram werden krasse Meldungen und brutale Kriegsbilder gepostet – und immer weiter geteilt und verbreitet. Jeder kann finden, was seiner Überzeugung über Täter und Opfer entspricht. So spiegelt sich der reale Krieg als „Meme-Krieg“ in den Sozialen Medien. Wie verheerend sich dies insbesondere auf russisch-ukrainische Familien auswirkt, schildern Tagebuchberichte und Interviews junger Ukrainer. Die Zeit-Redaktion hat solche gesammelt, geprüft und veröffentlicht. Man lernt: Die Verwandten in Russland vertrauen ihrem Staatsfernsehen, die Nichten und Neffen in Kiew erleben, was in ihrer Stadt tatsächlich geschieht. Die Verwandten glauben ihnen nicht.
Den Kopf einschalten
Bei uns im Westen, fernab vom Kriegsgeschehen, gibt es kaum authentischen Erlebnisse, Tagesschau und ZDF haben keine Frontreporter im Einsatz (Stand: 07. März). Die Menschen hier im Westen sind auf die Nachrichten unserer Informationsmedien angewiesen; vielen genügt das nicht, sie konsumieren, was die Kanäle auf den Social Media-Plattformen bringen. Doch wie sollen sie überprüfen, was sie auf Ihren Handys sehen, hören, lesen? In Friedenszeiten sind die Nachrichtenströme vergleichsweise überschaubar. Da kann man Schritt für Schritt heikle News, auch Bilder überprüfen und manche Fakes erkennen (wie das geht, zeigen wir in den beiden Online-Selbstlernkursen). Doch im Krieg, wenn sich die Meldungen überstürzen und jeder irgendwas gesehen oder gehört haben will, funktioniert das nicht.
Man blickt entsetzt auf die schlimme Mitteilung auf seinem Handy, aber weiß nicht, wer hinter dem Profil steckt. Man erkennt oft nicht, ob das Video authentisch ist oder manipuliert wurde. Auch sieht man den meisten Bildern nicht an, wer sie wann und wo aufge-nommen und verbreitet hat; meist fehlt ihre Internetadresse (ID) – und Minuten später sieht man auf Twitter oder TikTok schon die nächste schlimme Video-Szene.
Dass hier Informationsüberprüfungen meist scheitern, dass sie zudem aufwändig sind und Quellen- wie auch Recherchekenntnisse erfordern, liegt auf der Hand.
Wer sich in Katastrophen- und Kriegszeiten – soweit möglich – zutreffend informieren will, der sollte deshalb anders vorgehen. Er sollte mit dem eigenen Kopf starten und als erstes diese Grundregeln beherzigen:
➔ Glaube nichts, aber halte (fast) alles für möglich! Also nicht gleich ein Urteil fällen, nicht gleich die gepostete Nachricht oder das Video teilen und weiterverbreiten, sondern mit kühlem Kopf hinsehen:
- Was genau wird hier gezeigt, welche Tatsachen (wer, was, wann, wo) werden behauptet?
- Wer behauptet sie (gibt es eine eindeutige Quelle)?
- Kenne ich den Newsverbreiter, hat er ein Profil und kann ich dort zurückfragen?
➔ So schwer es bei all den aufreibenden Themen auch fällt: Trenne zwischen deinen Gefühlen für die Betroffenen und für die Informanten („mein Gott, das hat mir mein Neffe gepostet!“) einerseits und den nachrichtlichen Aussagen über Ereignisse andererseits:
- Auch wenn mein Herz für dieses oder jenes Kriegslager, für diese oder jene Volksgruppe, für diese oder jene Stadt oder Dorfgemeinschaft schlägt: Ich halte mich raus und gebe keine moralischen Werturteile ab; ich will mich „nur“ informieren.
- Auch wenn ich mit meinen Verwandten – seien es Ukrainer oder Russen oder Polen oder Ungarn – in enger Loyalität verbunden bin und bleiben will: ich verbreite keine Gerüchte und keine Kolportagen und keine Erzählungen von irgendjemandem, auch wenn sie von meinen engsten Freunden oder meinen liebsten Verwandten kommen.
- Ich zeige mich stets offen und interessiert, und ich nehme, wo angebracht, auch großen Anteil – aber ich lasse mich nicht skandalisieren und hysterisieren.
➔ Wenn ich Rechtfertigungen oder Erklärungen über Kriegshandlungen höre, halte ich an meinen Grundwerten fest. Die wichtigsten stehen in der Menschenrechts-Charta, die von der Staaten- und Völkergemeinschaft vor 74 Jahren in Paris verkündet wurde: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – (sind) fest entschlossen,
- künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren (…),
- unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen,
- Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung (…) des Völkerrechts gewahrt werden können.“ (Auszug).
Im Krieg ist jeder Partei
So viel zur Grundhaltung, für die jeder allein verantwortlich ist. Doch damit ist das Problem – wie kommen wir zu glaubwürdigen Nachrichten – nicht gelöst. Wie und woran erkenne ich in Kriegszeiten zuverlässige Newskanäle und Medien, die mir keine Ideologie verkaufen, sondern mich zutreffend ins Bild setzen wollen?
Vor allem in den neuen Bundesländern sind viele der Ansicht, auch in Deutschland seien die sogenannten Mainstreammedien doch vom Staat (Regierung, Ministerien, Parteien) oder der Wirtschaft gelenkt, jedenfalls von ihnen „irgendwie“ abhängig. Bei vielen Menschen entstand dieser Eindruck in der Zeit der sogenannten Flüchtlingskrise, als die Leitmedien die „Willkommens“-Politik der Bundeskanzlerin unterstützten und abweichenden Ansichten kaum Platz gaben. Nur: Die Leitmedien taten dies aus freien Stücken; die meisten Chefredaktionen waren tatsächlich der Meinung, dies sei die alternativlos richtige Politik und Andersdenkende lägen falsch. Mit anderen Worten: Viele Menschen im Osten können sich nicht vorstellen, dass die publizistische Haltung der Medien (Ja zur grün-liberalen Wirtschaftspolitik, Ja zum Westbündnis) der westdeutschen Erwachsenenbevölkerung wie auch dem weit verbreiteten Selbstverständnis der Medien-macher entspricht; diese politische Haltung der Journalisten erstarkte frei von jeder Staatsabhängigkeit. Auch beim Großthema „russischer Angriffskrieg“ ist die Haltung der Newsmedien in ganz Westeuropa deutlich: Sie berichten, gewichten und beurteilen aus der Sicht des Opfers, der Ukraine.
Bei überregionalen Konflikten folgen wir „im Westen“ der politisch wie kulturell geprägten Sichtweise der westlichen Völkergemeinschaft mit ihrer Werteordnung. Unter dieser Perspektive haben autoritäre Regimes wie Lukaschenko in Belarus und Putins Russland per se schlechte Karten. Zudem sind bei militärischen Konflikten in Europa auch die Bündnisse mit betroffen, in unserem Kontext ist es der Nordatlantikpakt (Nato), im russischen ist es Putins Blick auf die untergegangene Union der Sowjetrepubliken. Er nennt diesen nostalgischen Blick: Sicherheitsbedürfnis.
Von daher nehmen die westlichen Newsmedien wie selbstverständlich die Perspektive Westeuropas und des Nato-Bündnisses ein, die russischen nur die des Kremls. Dass es sich hier wie dort um regionale Perspektiven handelt, wird gewahr, wenn man die Nachrichten auf den Newssites und TV-Kanälen etwa in Ulan Bator oder in Tokyo oder in Buenos Aires konsumiert: eine absolute Neutralität gibt es nicht.
Gerade im interkulturellen Vergleich merkt man aber auch, dass viele Newsmedien über manche Vorgänge übereinstimmend berichten: Fakten sind Fakten. Von daher betrifft die Frage nach der Zuverlässigkeit der Newsmedien im Kriegszustand nicht deren politische Haltung, sondern einzig deren Informationsqualität. Nochmals: Werde ich – soweit möglich – zuverlässig informiert?
Redaktionelle Handwerksregeln
Dies ist nun keine ideologische Frage, sie richtet sich vielmehr an die journalistischen Handwerksregeln in den Medienredaktionen. Deren wichtigste lauten:
➔ Wenn die Nachricht nicht überprüft werden konnte, muss dies kenntlich gemacht sein. Und dies geschieht, indem die Nachricht mit der Quelle (in der Rolle des Sprechers, d.h. direkte oder indirekte Rede) verbunden wird. So erfahren die Nutzer, ob es sich um eine Behauptung oder eine Sachbeschreibung oder eine Deutung von Mister X handelt.
➔ Die zweite Handwerksregel lautet: Wenn es verschiedene Versionen gibt, die nicht abgeklärt werden konnten, sollen die Differenzen oder Widersprüche (der zwei Kriegslager oder auch der Beobachter) wiedergegeben werden. Auf diesem Wege erfahren die Nutzer, dass es (noch) keine unstrittige Darstellung des Vorgangs gibt.
➔ Die dritte Regel gilt vor allem für Onlinemedien und lautet: Transparenz. Die Redaktion soll ihre Überprüfungsrecherche offenlegen, damit die Nutzer den Vorgang nachvollziehen und entscheiden können, ob sie dem Fakten-Check der Redaktion glauben wollen oder nicht.
Wenn wir die Ukraine-Berichte der News-Apps großer Medienhäuser – auch die der ARD und des ZDF – in den ersten Kriegstagen Ende Februar 2022 heranziehen, sehen wir, dass die Nachrichtenredaktionen anfangs die Verlautbarungen der Kriegsparteien unkritisch übernahmen. Viele Medien folgten der vom Kreml verordneten Sprachregelung, etwa, dass der Krieg nicht „Krieg“, sondern „Spezialeinsatz“ genannt werden müsse (Putins Rede gibt es hier – Auszüge in deutscher Übersetzung hier). Viele deutsche Newsredaktionen mussten die Handwerksregeln erst wieder üben; nach ein paar Tagen klappte es bei den großen Newsredaktionen schon recht gut (hier ein Beispiel vom 28.02.2022). ). Einige zeigen, dass sie auch die Korrekturfunktion verstanden haben. Beispielsweise schreibt Der Spiegel am 05.03.: „In einer früheren Version dieses Videos hieß es, die Brücke in Irpin sei durch russischen Raketenbeschuss zerstört worden. Tatsächlich hat das ukrainische Militär die Brücke gesprengt, um die russischen Truppen aufzuhalten. Wir haben den Fehler korrigiert.“ Andere Medien haben mit dem Berichtigen mehr Mühen; sie überprüfen nicht, sondern begnügen sich damit, die News der Agenturen zu übernehmen und aufgeblasene Kommentare zu schreiben.
Was heißt „Haltung“?
Warum sind so viele Medienberichte – Fakten hin oder her – aus Russland oder auch aus Belarus oder aus China so unzuverlässig? Kennt man dort die Handwerksregeln nicht? Doch schon, aber die redaktionellen Handwerksregeln funktionieren nur, wenn die Medien nicht weisungsgebunden sind, wenn sie frei berichten dürfen (was in Deutschland Art.5 des Grundgesetzes gewährleistet) und keiner staatlichen Zensur unterworfen werden.
Im Krieg sind die Nachrichtenagenturen, Onlinekanäle und Newsmedien der Kriegsparteien ohnehin zur Parteilichkeit verdammt; auch die US-Medien standen zu Beginn des Irak-Kriegs felsenfest auf der Linie der Bush-Regierung, die mit Fake News in der UN-Versammlung Werbung für ihren Kriegseinsatz gegen Hussein machte. Doch anders als damals in den USA berichten die ukrainischen Journalisten in Übereinstimmung mit ihrer Bevölkerung und ihrer Regierung, um den Widerstand und den Kampfwillen zu stützen. Im Gegensatz dazu hängen inzwischen alle russischen Newsmedien am Gängelband der Putin-Regierung und ihren Wortführern.
Im Vergleich beider Kriegsparteien gibt es noch diesen fundamentalen Unterschied: Die ukrainischen, wie auch die westlichen Medien berichten, was sie sehen und stehen mit ihren Kommentaren auf dem Boden der UN-Menschenrechtscharta. Die russischen Staatsmedien indessen unterstehen der Sprachregelung des Kreml: Russland führe in der Ukraine nur eine „begrenzte Militäraktion“ zwecks „Demilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ durch. Seit dem 4. März 2022 sind per Gesetz alle Medien in Russland verpflichtet, nur nach Vorgabe der russischen Militärbehörden zu berichten. So ist es zum Beispiel streng verboten, die Wörter „Angriffskrieg“ und „Invasion“ zu benutzen – oder gar zu berichten, dass der russische Angriff massive Zerstörungen und auf beiden Seiten schon viele Tausend Tote und Verletzte gekostet hat
Kampagnen und Propaganda
Damit sind wir beim letzten Punkt angelangt: Mit jedem Krieg beginnt auch die Propagandaschlacht: Jede Kriegspartei will ihre Kriegszüge legitimieren und die Gegenseite diskreditieren und den Feind demoralisieren. Wir kennen dieses Propagandamuster seit der Perserkriege in der Antike. Im aktuellen Fall war es der Aggressor Russland, der die Propa-gandaschlacht auf allen Kanälen entfesselte: Russland müsse die von einer Faschistencli-que unterdrückten Menschen im Donbass beschützen. Diese Botschaft verbreiteten auch Russlands in Westeuropa aktiven Propagandasender. Noch vor dem Angriffskrieg wurden sie von den EU-Behörden für die EU-Staaten verboten. Die für uns essenzielle Idee der Meinungs- und Pressfreiheit hat dies gewiss nicht gestärkt.
Dass Putins Russland mit seinem Einmarsch das Völkerrecht quasi mit Füßen tritt, will der Kreml im eigenen Lager (vor seiner russischen Bevölkerung, vor den Oligarchen, vor den mit Russland befreundeten Staaten) moralisch rechtfertigen. Der Propagandakrieg muss jetzt also zuhause in Form massenhafter Zustimmung gewonnen und jeder Widerspruch unterdrückt werden. Deshalb darf die Wahrheit über die wahren Beweggründe Putins und über den Widerstand der Ukrainer nicht ans Licht der (russischen) Öffentlichkeit. Der Radiosender Echo Moskau und der letzte unabhängige TV-Kanal Dozhd wurden eine Woche nach Kriegsbeginn vom Kreml gesperrt (eine eindrückliche Doku-Reportage über „Dozhd“ und seine Eigentümerin, Natalja Sindejewa, findet sich hier). Aufgrund des am 4. März beschlossenen Gesetzes müssen auch die Moskau-Korrespondenten ausländischer Medien den Sprachregelungen des Kreml folgen. Seither sind aus Moskau keine sachrichtigen Nachrichten mehr zu erwarten. Von daher war es für westliche Medien naheliegend, ihre Moskauer Büros zu schließen.
Dass dieser Propagandakrieg von langer Hand vorbereitet und vom Kreml orchestriert wurde, deckte schon am 21. Februar die britische Tageszeitung The Guardian in mustergültiger Weise auf: Drei Guardian-Journalisten nahmen ein russisches Propaganda-Video auseinander, welches den Angriff ukrainischer Truppen vortäuschte, um der russischen Bevölkerung einen moralisch gerechtfertigten Grund für den Einmarsch vorzuführen. Die Guardian-Journalisten konnten zudem zeigen, dass sich der Kreml derselben Logik bedient wie vor 80 Jahren, als sowjetische Truppen in Finnland einmarschierten: Das Opfer wird als Aggressor verkleidet.
Auch dies sind keine Fakten, sondern ist eine Deutung, freilich eine gut fundierte.
Michael Haller / Leipzig, 02.03.2022 (Update: 07.03.2022)