Michael Haller: Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Haben Medien über die „Flüchtlingskrise“ ausgewogen und neutral berichtet? Sind sie ihrer journalistischen Verantwortung gerecht geworden? Diesen Fragen ist Prof. Michael Haller in einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung auf den Grund gegangen. Die Antwort: Große Teile der Journalisten haben ihre Berufsrolle verkannt und die aufklärerische Funktion ihrer Medien vernachlässigt.

Die 2017 veröffentlichte Studie erfasste in einer aufwendigen Untersuchung mehr als 30.000 Medienberichte und unterzog mehr als 1700 Texte einer fundierten Inhaltsanalyse. Beiträge aus den Zeitungen FAZ, SZ, Welt und Bild sowie aus den Online-Medien tagesschau.de, focus.de und Spiegel Online sowie die Berichte in 85 Lokal- und Regionalzeitungen bildeten die Datengrundlage, um folgende Leitfragen der Forschung zu beantworten: Wer kam bei der Flüchtlings-Berichterstattung in den Jahren 2015 und 2016 zu Wort – vornehmlich regierungsnahe Stimmen oder auch die direkt Betroffenen, also Geflüchtete oder engagierte Freiwillige selbst? Über wen wurde wann und wie berichtet – und über wen nicht?

Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile. Sie schildet zunächst die „Fieberkurve“ in der Berichterstattung zur Flüchtlingsthematik in den Jahren 2015/16 und widmet sich dann der Erfindung des Narrativs „Willkommenskultur“. Im dritten Schritt analysiert sie die Berichterstattung über zehn Großereignisse, die mit der Migration in direktem Zusammenhang stehen.

Die Studie zeigt auf, dass Journalisten oft die Losungen der politischen Elite übernahmen statt als neutrale Beobachter die Politik kritisch zu begleiten. Dies führte im Ergebnis auch dazu, dass sich Teile der Bevölkerung vom Journalismus entfremdet haben. Diese Entfremdung ist auch den Medienschaffenden zuzuschreiben, so urteilt die Studie. Insgesamt 20 besorgniserregende Befunde werden vorgestellt. Darin kritisiert Forschungsleiter Michael Haller auch eine unzureichende Unterscheidung zwischen faktenbasierter Berichterstattung und Meinungsmache:

„Der journalistische Qualitätsgrundsatz, aus neutraler Sicht sachlich zu berichten, wird in rund der Hälfte der Berichterstattungen nicht durchgehalten. Insbesondere die Art und Weise, wie über die Positionierung eines Politikers berichtet wird, ist oftmals wertend und beurteilend, bei Vertretern der Opposition mitunter auch ‚von oben herab‘.“ (S. 134)

In der deutschsprachigen wie internationalen Medienlandschaft wurde die Studie mit großem Interesse rezipiert. Stellvertretend bewertet das Medienportal MEEDIA die Relevanz der Untersuchung, die Erklärungen für den zwischenzeitlich diagnostizierten Vertrauensverlust in die Medien biete:

„Haller gelingt es mit der Studie, erstmals faktenbasiert herzuleiten, woher der allgemein diagnostizierte Bruch zwischen Publikum und Medien herrühren könnte: Konformität (Herdentrieb), Orientierung an den (politischen) Eliten, Bevormundung. All dies führt zum Vertrauensverlust. Er lenkt den Blick damit auf ein ganz grundlegendes, strukturelles Problem der Medienbranche.“

Über die Internetseite der Otto Brenner Stiftung kann der Forschungsbericht und der Methodenbericht – sowie weitere OBS-Arbeitshefte – als PDF-Dateien kostenlos heruntergeladen werden.

Michael Haller: Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien – Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information, herausgegeben von der Otto Brenner Stiftung. Frankfurt a. M. 2017, 176 S., OBS-Arbeitsheft 93.