Narzissten in der Filterblase

Zum Medienverhalten der Millenials

Von Michael Haller

Tausendmal gesehen, tausendmal den Kopf geschüttelt: Das Foto eines cool gestylten jungen Mannes, der auf sein Handy starrt, auf dessen Screen ein junger Mann zu sehen ist, der auf sein Handy starrt, auf dessen Screen ein junger Mann… usw.

Dieses Foto ist ein Symbolbild, denn seine Selbstreferenz zeigt die mit dem Smartphone verbundene Selbstbezogenheit der Millennials, der Generation, die im Lauf der letzten zwei Jahrzehnte vor der Jahrtausendwende auf die Welt kam und mit dem interaktiven Web 2.0, den Social Media-Plattformen und dem Smartphone groß geworden ist. Ihr medialer Kontext macht diese Generation einzigartig. Das Foto illustriert auch den Modus dieser Millennials, die sich fortwährend mit den Augen der anderen beäugen, die sich mit Körperkult, Schmollmund und buntem Outfit bei Facebook als originelle Persönlichkeiten zur Schau stellen und zugleich ihre Orientierungslosigkeit verdecken. „Millennials: The Me Me Me Generation“, stand auf dem Cover des US-Magazins  im Mai 2013, darunter ein selbstverliebt ins eigene Smartphone blinzelnder Teenager. Alles klar?

Empirische Studien kolorieren dieses Bild der narzisstischen, auf ihre virtuelle Welt fixierten Nachwuchsgeneration. Viel beachtet und zitiert wurde die von der Marketing-Agentur Syzygy kürzlich publizierte „Ego-Tech-Studie 2017“, die mehr als tausend Millennials und ebenso viele der älteren Generation befragte. Ihr zufolge ist die Selbstinszenierung in den sozialen Medien für die jungen Leute lebenswichtig; im Vergleich mit der Generation ihrer Eltern erscheinen sie „um 17 Prozent“ narzisstischer. Ganz besonders narzisstisch seien Millennials, „die drei oder mehr On Demand-Apps“ nutzen oder „sprachgesteuerte Assistenten“ (wie Siri und Alexa) oder „Fitness Tracker“. Und wer für Fotos einen Selfi-Stick verwendet, der sei „im Schnitt 30 Prozent narzisstischer als Millennials ohne Selfie-Stick.“ Offenbar ist diese selbstverliebte Generation pausenlos aufs Handy fixiert: „Millennials sind 30 Prozent süchtiger nach ihrem Smartphone als andere Generationen. 48 Prozent würden sogar lieber einen Monat aufs Frühstück verzichten als auf ihr Handy. 28 Prozent würden sogar eher auf Sex verzichten als auf das Smartphone.“ Kann das sein?

Der Bochumer Psychiater Bert Theodor te Wildt, der sich auf internetabhängige Millennials spezialisiert hat, ist der Überzeugung, dass in der neuen Smartphone-Generation eine „Verlagerung des Seins auf die digitale Ebene“ stattgefunden habe: „Die Währung des digitalen Zeitalters sind Auf­merksamkeit und persönliche Bewertung.“ So mancher werde regelrecht süchtig nach ständiger Bestätigung. „Wenn er nicht online ist, existiert er nicht. Likes und Follower werden zum digitalen Suchtmittel, vergleichbar mit Alkohol.“

Handy über alles: Unter den Engländern scheint diese  Abhängigkeit noch krasser zu sein. Auf die Frage, was leichter fiele: einen seiner Finger oder sein Smartphone wegzugeben, habe dort jeder zehnte junge Erwachsene geantwortet: besser den Finger verlieren, als aufs Mobile zu verzichten. Diese Aussage – sie stammt von der Softwarefirma Tappable, die 2018 mehr als 500 junge Briten be­fragte – ging um die Welt und lieferte den Medien, auch der Bild-Zeitung die grauenerregende Schlagzeile: „Junge Erwachsene würden eher auf Finger als Handy verzichten“. Tatsächlich handele es sich um die erste Generation, die vom Kleinkindalter an mit den „Mobiles“ aufgewachsen sei und eine Welt ohne sie nicht kennte, wird Tappable-Chef Sam Furr zitiert. Er sei neugierig gewesen, „wie tief die Mobiles mit ihrem Alltagsleben verwoben seien. Und unsere Umfrage gab die Antwort.“

Populäre Millennial-Klischees

Das Klischee erscheint wissenschaftlich bewiesen und besiegelt. „In den sozialen Netzwerken wachsen digitale Narzissen heran, warnen Forscher“ raffte das Hamburger Abendblatt, sinngleich viele andere Medien, stets mit Verweis auf te Wildt. Und weil ja knapp 90 Prozent der Millennials bei Facebook Mitglied sind, trifft dieses Urteil praktisch alle, die zu dieser Alterskohorte gehören. „Dem realen Leben entschwunden“, titelte das Deutsche Ärzteblatt einen Bericht über das „Internet­nutzungsverhalten“ vieler junger Leute. Landauf, landab ist man sich einig: Smartphone und Web 2.0 sind Ursache, Symptom und Wirkung zugleich für ein radikal neues, die junge Generation prägendes Lebensgefühl. Und die etablierte Elternwelt ist beunruhigt und ratlos.

Also konsumiert sie immer neue Geschichten über die desorientierten Kids, Teens und Twens, die sich selbst für grandios halten und dabei eher langweilige Menschen sind. Zum Beispiel die auch bei uns so erfolgreichen amerikanischen TV-Serien und Instagram-Staffeln über die softig-wehleidige „Generation Snow­flake“, zuerst in der Fernsehserie „Girls“ (Lena Duham), zuletzt in den zwei Staffeln der Video-Serie „Search Party“, einer tragisch-komischen Story über vier junge New Yorker, die aus Langeweile auf die Idee kommen, eine verschwundene Bekannte zu suchen, wilde Verschwö­rungstheorien spintisieren, einen Unschuldigen umbringen, selbst zu Verfolgten werden und endlich etwas Wirkliches erleben. Inzwischen wird dieses Klischee auch in deutschen Filmen ausgebreitet. Unter dem Trivialtitel „Millennials“ (Regie: Jana Bürgelin) etwa hangeln sich zwei junge Erwachsene durchs Künstler-Prekariat und führen den Zuschauern vor, wie es sich anfühlt, wenn kriselnde Opportunisten in narzisstisch motivierten Selbsterprobungen ihren Lebenssinn suchen.

Für all das soll die Digitalisierung und das Internet die Ursache sein? Und trifft das Klischee der narzisstischen Persönlichkeit das Lebensgefühl der Millennial-Generation?  Es gibt Gründe, diese Befindlichkeitsbeschreibungen in Zweifel zu ziehen.

Die Welt jenseits der Schlagzeilen

Ich beginne mit den zitierten Erhebungen, die in deutschen Medien als Basis und Beleg für das Millennial-Drama dienen. Zuerst die 1995 gegründete, auf die Vermarktung von Internetmedien ausgerichtete Agentur Syzygy mit vier Standorten in Deutschland. Sie schreibt über sich unter anderem dies: „Wir verstehen Menschen, Technologien und wir verstehen ihr Business und helfen neue Möglichkeiten zu erkennen und Veränderungen voranzutreiben.“  Syzygy versteht auch viel vom manipulativen „Influencer Marketing“, mit dem sich Denk- und Sichtweisen gestalten und verändern lassen. Auf ihrer Homepage schreibt sie: „Durch die Kombination von Kreativität, journalistischer Kompetenz und exzellenter Gestaltung gepaart mit intelligenter Media- und Kanalplanung entsteht Content, der die Menschen am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, im richtigen Format und mit der richtigen Geschichte erreicht.“

Eine derart „richtige“ Geschichte ist offenbar diejenige über die facebook- und handyabhängigen Millennials. Denn sie erzählt der Werbewirtschaft, dass diese konsumwillige Zielgruppe am besten mit ego-stärkendem Storytelling und Influencer-Marketing erreicht werde. Und die tausend befragten Millennials der „Ego-Tech-Studie 2017“? Der Report der Agentur macht keinerlei Angaben zur Methode; wir erfahren nichts über die Stichprobengenerierung, nichts über das Erhebungsverfahren, nichts über den Fragebogen, nichts über Validität und Repräsentanz der Antwortenden. Wir erfahren stattdessen, dass die Werbekunden dank Syzygy ihre Millennial-Zielgruppen am besten in der Rolle der selbstverliebten Narzissten ansprechen können. O-Ton der Studie: „Narzissten halten sich für überlegen: schlauer, attraktiver und wichtiger. Erfolgreiches EgoTech kann dem Ego schmeicheln, indem es auf dieses Überlegenheitsgefühl einzahlt. Man denke an Technologien, bei denen der Nutzer immer an erster Stelle steht, noch vor anderen, beispiels­weise durch die App zum Umgehen der Warteschlange bei Starbucks oder die Prime-Lieferung von Amazon.“ Zum Schluss der Studie heißt es: „Die Zukunft von Marketing ist Egotech – Technologie, die dem Ego schmeichelt und den Kult ums Eigene Ich unterstützt.“

Kommen wir zum Bochumer Psychiater te Wildt. Er ist gewiss ein solider Zeuge, der schon früh die Gefahren der Suchterzeugung („Internet Gaming Disorder“) erfasst und für gefährdete Menschen therapeutische Konzepte entwickelt hat. Die von ihm gegründete „Online-Sucht-Ambulanz OASIS“ bietet zweckdienliche Tests an, um eigene Suchttendenzen zu erkennen. Auch seine Warnungen an die Adresse der Eltern, dass digitale Bildschirmmedien keine Spielzeuge für Kinder sind, ist mehr als berechtigt. Kleinkinder können den Unterschied zwischen realer und virtueller Welt nicht erkennen; sie geraten in Angst und Panik, wenn in den Games gewalttätige Phantasiegestalten auftauchen oder liebliche Elfen und Bienchen sich plötzlich in Nichts auflösen. Aber auch viele Kinder im Schulalter sind gefährdet. Wissenschaftlich fundierte Studien, vor allem das gemeinnützige Projekt „BLIKK-Medien“ haben nachgewiesen, dass bei Schulkindern ein Zusammenhang besteht etwa zwischen Sprachentwicklungsstörungen und der Nutzungsdauer digitaler Bildschirmmedien. Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Milieus gelten als stark gefährdet, vor allem, wenn schon deren Eltern handyabhängig sind. Die Ärztegesellschaften arbeiten daran, pathologischen Internetgebrauch als „Verhaltenssucht“ anzuerkennen. Dies hätte zur Folge, dass die Therapiekonzepte weiter ent­wickelt und Suchttherapien von den Krankenkassen übernommen würden.

Dies sind ernst zu nehmende Trends. Sie sind indessen keineswegs typisch für die Generation der Millennials, sondern für suchtgefährdete Milieus, darin nicht anders als der Hang zu Alkohol und anderen Drogen. Den mir bekannten Studien zufolge findet sich unter den 15- bis 28-Jährigen keine auffällige Internetabhängigkeit; der Psychiater te Wildt ist für unser Thema also der falsche Zeuge. Natürlich gibt es Abhängigkeiten, doch die unterscheiden sich stark je nach Altersgruppe und sozialem Milieu quer durch die Generationen. Auch die Millennials sind in dieser Hinsicht keine geschlossene Gruppe: 15- oder 16-jährige Teenager haben ganz andere Interaktionsbedürfnisse als die 22-jährigen Azubis oder Studierenden. Und deren Medienverhalten unterscheidet sich deutlich von den End-Zwanzigjährigen. Ich werde noch darauf zurückkommen.

Nun zur dritten Quelle, zur Softwarefirma Tappable und dem weltweit kolportierten Zitat über den für den Handybesitz eingetauschten Finger. Die meisten Medienberichte bezogen sich auf das aus den USA stammende, als seriös geltende Internetmagazin „SC Media“, das Fragen der Internet­sicherheit behandelt. Am 24. Juli 2018 berichtete es unter dem Titel „One in 10 millennials would give up a finger for their smartphone“ über die Erhebung. Und alle, auch seriöse Medien, schrieben dies ab. Doch der Link zur Tappable-Studie entpuppt sich als Blog von Tappable-Chef Sam Furr vom 12. Juli. Dort finden sich starke Sprüche, doch als Beleg nur den kargen Hinweis, dass „over 500 UK males and females aged 18-24“ im Laufe zweier Tage „10 questions around their lifestyle preferences“ beantwortet hätten. Keinerlei Hinweise zur Stichprobe und deren Zusammensetzung, nichts über die Fragestellungen, nichts zur Demografie und dem jeweiligen Antwortverhalten. Man muss folgern, dass diese Erhebung, so sie durchgeführt wurde, keine glaubwürdigen Ergebnisse erzeugt hat. Deshalb sind auch die weltweit zitierten Befunde, jeder zehnte Millennial verzichte lieber auf seinen Finger, jeder siebte lieber auf Sex als auf sein Smartphone, nichts anderes als Fake News. Man kolportiert sie gern, denn sie passen zu den Vorurteilen der Erwachsenenwelt und prägen das Klischee der handysüchtigen Millennials. Vor allem aber verschaffen sie dem Softwareentwickler Tappable eine kostenlose PR-Kampagne für neue Business- und Startup-Kunden: „concept to app store, we build stunning brands & products with seamless UX“ heißt es auf derselben Webseite.

Was heißt „Internetabhängigkeit“?

Die soeben referierten Behauptungen über die Wirkung der neuen Medien gehen an der sozialen Realität vorbei. Sie bedienen den fatalen Hang zur Generalisierung und Pauschalisierung, derweil sich die Gesellschaft immer stärker segmentiert und sich die Medien immer weiter ausdifferenzieren. Zum Beispiel das Handy: Wegen seiner ubiquitären Verwendbarkeit – Fotoapparat, Funktelefon, webbasiertes Interaktionsmittel und Informationsmedium jederzeit und (fast) überall – wird es täg­lich mehrere Stunden genutzt. Der Dauerblick auf den Screen, das Drücken und Wischen auf der Bedienoberfläche hat neurologische Effekte und verändert die Wahrnehmung. Doch daraus lassen sich keine Folgerungen über das Informationsverhalten ziehen. Dies gelingt nur, wenn man ermittelt, wer sein Handy wie, wann und wie oft für welche Zwecke und Inhalte nutzt. Dasselbe gilt für das Internet und das Phantom „Internetabhängigkeit“. Abhängig von was? Die Kritiker sollten sich immer mal wieder klarmachen, dass es sich beim Web um ein global installiertes Netzwerk für den Daten­austausch in Verbindung mit unüberschaubar vielen Datenspeichern mit schier unendlich vielen und verschiedenen Inhalten handelt. Also muss herausgefunden werden, wer wann, wo und wie oft für welche Zwecke welche Webdienste und -angebote nutzt bzw. im Web surfend unterwegs ist.

Solche Erhebungen und Studien gibt es, nur: sie liefern keine Skandalschlagzeilen und sind deshalb nicht populär. Eine zuverlässige Übersicht über den Wandel der Mediennutzung gibt die von den öffentlich-rechtlichen Anstalten eingerichtete, von einem neutralen Fachgremium durchgeführte Langzeitstudie „Massenkommunikation“. Seit 1965 befragt sie im Fünfjahresrhytmus rund 4.000 repräsentativ ausgewählte Personen über deren Umgang mit Medien. Sie ist weltweit die einzige Intermediastudie, die das Medienverhalten der Bevölkerung über einen so langen Zeitraum mit wissen­schaftlich soliden Methoden beobachtet.

Diesen Erhebungen zufolge nutzen die Erwachsenen im Durchschnitt neun bis zehn Stunden pro Tag das Medienangebot: die klassischen Medien (Fernsehen, Radio, Presse), Video und Internet. Über­raschend daran ist, dass vor rund 12 Jahren dieses Zeitbudget zehn Stunden betrug und seither leicht rückläufig ist. Die letzte Messung (2015) ergab 9 Stunden und 26 Minuten. Noch überraschender: Derselbe rückläufige Trend zeigt sich bei den jüngeren Millennials (hier sind es die 14- bis 19-Jährigen. Nicht berücksichtigt sind weitere Handy-Funktionen, wie Telefonie, Fotografieren und Offline-Games). Dieses Zeitbudget enthält auch die Internetnutzung, die 107 Minuten pro Tag dauert. Doch davon werden nur 26 Minuten für die Medien (News, Berichte, Videos) verbraucht; die übrige Zeit (81 Minuten) gilt der Kommunikation, den Spielen, dem Shopping, Planen und Suchen. Fürs Fernsehen – sowohl klassisch wie per Internet – geben die Erwachsenen derzeit im Durchschnitt 3 Stunden und 30 Minuten pro Tag. Fürs Zeitunglesen (inklusive online und E-Paper) sind es 27 Minuten. Unter den Millennials ist der Fernsehkonsum geringer und die Internetnutzung mit 187 Minuten zeitraubender. Sie geben, wenn sie online sind, allerdings fast doppelt so viel Zeit (48 Minu­ten), um sich vermittels der Internetmedien zu informieren. „Vor allem bei den 14- bis 29-Jährigen ist die klassische Mediennutzung ein relevanter Teil der Onlinenutzung“ folgern die Studienleiter.

Fragt man nach den Nutzungsmotiven und den Images der Medien, geben die Millennials keine andere Einschätzung als die ältere Bevölkerung: Die diversen Newsanbieter im Internet werden als unzuverlässig und weniger kompetent taxiert. Die Fernsehsendungen hingegen gelten als informativ, kompetent und unterhaltsam, das Radio als lockerer Tagesbegleiter, die Tageszeitungen als sachlich, informativ und glaubwürdig. Merkwürdig ist allerdings, dass die Millennials die Tageszeitungen gleichwohl nicht mögen. Was bedeutet das?

Sie finden die klassischen Informationsmedien korrekt, nutzen sie aber kaum: Könnte es sein, dass sich die Millennials doch lieber unter Ihresgleichen via Facebook, WhatsApp und Twitter ins Bild setzen? Bewegen sie sich in ihren Filterblasen getreu der Losung: Wenn die Nachricht wichtig ist, wird sie mich schon erreichen? Gerade die Glaubwürdigkeit der Informationsmedien wurde in den vergangenen Jahren mit dem Schimpfwort „Fake News“ von Vielen in Zweifel gezogen. Auch von den jungen Leuten?

Mentale Abkehr vom Betrieb der Rahmengesellschaft

In den vergangenen Jahren haben sich mehrere Forschungsinstitute mit dem Thema Glaubwürdigkeit und Medienvertrauen befasst und im Verlauf mehrerer Jahre dieselben Fragen einer repräsentativen Stichprobe gestellt. Ich stütze mich auf solch einen Längsschnitt des demoskopischen Instituts infratest diamap für die Jahre 2015 bis 2018. Die Daten zeigen einen deutlichen Trend: Seit 2015 sagen immer mehr Befragte sämtlicher Altersgruppen, sie hielten die Informationsmedien für glaubwürdig (von 52 zu 65 Prozent) und die Qualität der Informationsangebote für gut oder sehr gut (88 bis 90 Prozent). Umgekehrt wurde die Glaubwürdigkeit der sozialen Medien – Facebook und Twitter – zunehmend schlechter bewertet: Rund drei Viertel der Befragten, junge wie ältere, bezweifeln deren Glaubwürdigkeit. „Die Lügenpresse-Hysterie ebbt ab“, konstatierte eine Forscher­gruppe der Universität Mainz, deren Erhebung Anfang 2018 zu ähnlichen Ergebnissen kam.

Der Widerspruch zwischen Medienbewertung und tatsächlichem Informationsverhalten scheint un­auf­­lösbar. Man sollte darum noch genauer hinsehen und weiter differenzieren. Einen Hinweis liefert die Erhebung von infratest diamap mit der Frage: „Glauben Sie, dass den deutschen Medien von Staat und Regierung vorgegeben wird, worüber sie berichten sollen?“ Den Antworten zufolge glau­ben dies immerhin 40 Prozent der Gesamtbevölkerung, aber 54 Prozent der Millennials. In keiner anderen Bevölkerungsgruppe ist dieses Misstrauen ähnlich ausgeprägt. Es versteht sich, dass dieser Verdacht von denen geäußert wird, die per se ein geringes Medienvertrauen zeigen. Doch wie erklärt es sich, dass auch die übrigen Befragten überzeugt sind, dass in Deutschland, wo die Meinungs- und Pressefreiheit geschützt sind, der Nachrichtenjournalismus von der Politik gegängelt wird?

Der Lösung des Widerspruchs kommt man näher, wenn weitere Erhebungen zum Thema politisches Interesse und Informationsverhalten herangezogen werden, hier die wissenschaftlich solide Reihe „Medien und ihr Publikum (MiP)“. Diese führt zu der Deutung, dass für große Teile der jungen Erwachsenen die Frage nach der Glaubwürdigkeit der klassischen Medien kaum Bedeutung hat. Sie rechnen Staat, Regierung und Informationsmedien ein- und derselben Welt zu, egal, ob man diese nun System oder Establishment oder einfach Politik nennt. Und diese Systemwelt erscheint ihnen insgesamt als eine, die in die Irre führt.

Mit anderen Worten: Unter den Jungen findet eine mentale Abkehr statt, weg von den leerläufigen Routinen des Politikbetriebs, weg von den Politikern mit ihrem symbolischen Getue, das von den Medien entsprechend gespiegelt wird. Vielleicht ist es so: Dank der korrekten und insofern glaubwürdigen Informationsarbeit der Tagesmedien wird den Millennials die Unglaubwürdigkeit der politischen Akteure und deren nichtsnutziges Agieren offenbar. Sie verweigern sich den etablierten Parteien ebenso wie den Überbringern der schlechten Nachrichten, den klassischen Informations­medien: beide gehören nicht (mehr) zu ihrer Welt. Zu dieser Deutung passt eine im Februar 2018 durchgeführte Befragung Erwachsener unter 30 Jahren, ob sie eine Neuauflage der Großen Koalition richtig fänden oder die harte Nein-Losung der Jusos mit allen Konsequenzen.  Die überwiegende Mehrheit identifizierte sich mit der Haltung des Juso-Chefs Kevin Kühnert und seiner Meinung, dass eine Erneuerung nur in der Opposition möglich sei.

Den Anfang macht die Community

Im Unterschied zu ihrer Elterngeneration haben die Millennials von Kindesbeinen an gelernt, mit dem Handy in ihrer Peer-Group ihr Fühlen und Handeln abzustimmen. Vom Aufwachen bis zum Schlafen­gehen haben sie per SMS, dann über WhatsApp und Facebook jede Empfindung in ihrer Peer-Gruppe synchronisiert und jede Meinung bewertet. Erwachsen geworden, denken und handeln sie nicht solitär, sondern kommunitär: Singuläre Entscheidungen fallen ihnen schwer, dafür sind sie starke Teamplayer. Zu ihren Wertemustern gehört die Überzeugung, dass sie sich auf ihre Community (meistens) verlassen können. Nicht die Öffentlichkeit der etablierten Medien liefert Orientierung, sondern die Community. Sie ist auch der Spiegel, vor dem man sich zeigen will. Das Handy als Selfi-Medium dient nicht der narzisstischen Selbstbewunderung; es ist Mittel zum Zweck, in der Peer-Gruppe anerkannt zu werden.

Mit dieser Beschreibung verbindet sich die These, dass die Millennials die virtuelle Community als ihre primäre Erfahrungswelt erleben, weshalb die dort ausgehandelten Werte prägender wirken als die Werte der etablierten Erwachsenenwelt. Daraus haben Sozialpsychologen vor ein paar Jahren abgeleitet, dass die jungen Leute ihr digitales Reich »als sozialen Kulturraum (nutzen), den sie durch Inhalte, soziale Netze und stetige Partizipation aufbauen, erobern und erhalten.« Die etablierte Erwachsenenwelt solle darüber nicht meckern, vielmehr die Jungen akzeptieren und unterstützen. Denn vielleicht funktioniere dieses Reich als Erprobungsraum des offenen Kulturwandels, der neue Definitionen von Identität, Freundschaft und Privatheit hervorbringe.

Seither ist dieser Prozess mächtig vorangeschritten, die neuen, die „jungen“ Definitionen haben das Bildungssystem und die Arbeitswelt erreicht und alte Strukturen aufgeweicht. Hier wie dort gewinnen die Community-Werte an Bedeutung – und die etablierte Erwachsenenwelt staunt (und lernt vielleicht), dass die so narzisstisch wirkende Selbstverwirklichung  weit mehr als eine Inszenie­rung ist; als Teil der neuen Kultur zielt sie auf den Gruppenkonsens der Peer-Community. Dies erzeugt unter den Jungen allerdings sozialen Druck, der auf Konfluenz, auch Einordnung gerichtet ist und persönliche Profilierungsinteressen eher unterdrückt.

Das Überraschende daran ist, dass solche Kollisionen nicht ausagiert, sondern weich und mehrdeutig gemacht werden, indem die Beteiligten »harte« Entscheidungen meiden. Ein Indiz dafür sind die aufwendigen Abstimmungsprozesse und Redundanzen in den Kommunikationsschleifen, wenn Millennials sich entscheiden (sollen). Man kann daraus folgern, dass nicht Ehrgeiz oder das Selfi-Wohlgefühl, sondern Anerkennung und Bestätigung in der Gemeinschaft den höheren Wert hergibt. Diese starke Peer-Gruppenbindung war früher ein Kennzeichen der Pubertätsphase, die mit dem Ende der Schul- oder Lehrzeit verlosch. In der neuen Gemeinschaft der Millennials besteht sie fort und wirkt als identitätsstiftende, klarer Abgrenzung zur Ego-Werteordnung der etablierten Welt noch lange fort.

Was den Millennials aber weiterhin mangelt, ist das Interesse an den gesellschaftlichen Gestaltungs­räumen und so auch die Neugier auf das, was in der Welt jenseits der Peer-Community geht und gehen sollte. Ihnen fehlen, mit anderen Worten, eigene, wertvolle Informationsmedien, die das Selbst­bestätigungsritual in den sozialen Medien beenden und stattdessen interessante Geschichten erzählen über die größere Welt: Nicht darüber, wie sie ist, sondern wie sie attraktiver zu machen wäre.

 


Nachdruck aus: Kursbuch 195/September 2019, S. 175-186

Weiterführende Literatur:

Michael Haller: Was wollt ihr eigentlich? Die schöne neue Welt der Generation Y. Hamburg: Murmann 2016.